Ein heikles Kapitel:

Abiturfeier in Deutschland - Lokales Beispiel: Overbach

39 Schüler "traten ins Leben", einer protestierte und fiel um - Fazit:Schule erreichte ihr Ziel

JÜLICHER NACHRICHTEN VOM 29. JUNI 1970

 

Von Tuisko Laufer

 

Barmen/Haus Overbach. Wer bei der diesjährigen Abiturientenentlassfeier des Gymnasiums Haus Overbach dabei war, konnten einen Festakt in der Kirche und der Aula der Schule miterleben, wie er in dieser exzellenten Form kaum noch an einem anderen Gymnasium angetroffen werden kann. Die letzten zwei oder drei Abiturjahrgänge haben es sich, besonders an städtischen und staatlichen Gymnasien,  in den Kopf gesetzt, auf Feiern im herkömmlichen Sinn – mit klassischer Musik – mehr oder weniger zu verzichten. Umso herausragender ist eine Feier mit all diesen in ihrer bedingungslosen Tradition nichtssagender Inhalte.

Wer noch nicht überzeugt gewesen ist, dass  „UNTER DEN TALAREN wirklich der MUFF VON TAUSEND JAHREN“ beherbergt wird, in Overbach lieferte man ihm bestes Beweismaterial an die Hand. Dabei ist es noch nicht einmal die Form, mit der man sich als Mitglied einer Gesellschaft, die eine Restauration alter Werte verhindern will, nicht mehr identifizieren kann, sondern die beschämenden Inhalte, die in dieser Form verborgen sind.

 

Im Falle der Abiturfeier in Overbach stellte sich – und das am Rande notiert-beim Anblick der allgemeinen Entwicklung und der in Overbach nachfolgenden Jahrgänge, die eines Tages ebenfalls an der Reihe sein werden, die Frage, ob nicht schon bald auch in Gymnasien wie Overbach, selbst wenn sie ihre Erziehungsarbeit auf familienähnlicher Basis durchzuführen versuchen, die erste Klasse eine unkonventionelle „Zeugnisübergabe“ eine bloße Formalität fordert.

 

Denn wenn sich die Overbacher Schüler schon äußerlich nicht mehr von den Schülern anderer Gymnasien unterscheiden (scharenweise mit schulterlanger Haarpracht und aktive Unterrichtsboykotteure), dann kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, wann sich der Geist durchsetzt, der am vergangenen Freitag einen Unterprimaner sagen ließ: „Hoffentlich ist das Theater hier bald zu Ende!“ Das war offensichtlich nicht der vielgerühmte „Geist von Overbach“.

Das „Theater“ – damit war das Festprogramm gemeint, das in zehn Punkten Musik und Wort in wechselnder Reihenfolge vorsah. Den Vortrag der Musikstücke und eines Gedichtes  besorgten die Abiturienten selbst, da sie in ihren Reihen verhältnismäßig viele Talente vorweisen konnten.

 

Etwa Gérald und René Krüll, die vierhändig den bearbeiteten 1. Satz aus Beethovens Sinfonie in c-Moll vortrugen, Franz-Josef Lütter mit Ravels Sonate für Klavier oder Helmut Kleinbauer (Klavier)  oder Philipp Bosbach (OIII a) mit dem 2. Satz der Cello-Sonate in D-Dur von Beethoven.

Seine Uraufführung erlebte bei dieser Abiturfeier ein Lied aus der Feder von Günter Kutz, Musiklehrer in Overbach, zu dem Pater Rosenwick den Text geschrieben hatte. Hier wie mit dem Chorlied „Nun zu guter Letzt“ von Mendelssohn-Bartholdy im Satz von G. Kutz glänzte der renommierte Overbacher Jugendchor, der vor der Feier in der Aula bereits den Gottesdienst unter Anwendung des beliebten Playback-Verfahrens für den Instrumentalpart mitgestaltet hatte. Chorleiter Pater Karduck brillierte an der Orgel.

 

Nicht so harmonisch wie in der Kirche ging es in der Aula zu, als laut Programm Glückwünsche und Dankworte ausgetauscht werden sollten.

Ganz konventionell gab sich zwar eine Mutter als Vertreterin der Eltern. Sie forderte die den Eltern zustehende Anerkennung für die geleisteten Opfer finanzieller und seelischer Natur und gab der Hoffnung Ausdruck, dass die Kinder es im Laufe der Ausbildungsjahre gelernt haben mögen, diese Mitgift der Eltern in „geistiges Kapital“ umzumünzen.

 

Dass mit diesem Kapital nicht die tatsächliche Fähigkeit, sich im Leben behaupten zu können, gemeint sein konnte, wurde spätestens dann deutlich, als eben diese Mutter versprach, die raue Wirklichkeit nicht drohend an die Wand malen zu wollen, die Wirklichkeit in Gestalt jeglicher Form von Unmenschlichkeit und Materialismus. Was aber sollte der fast in demselben Atemzug gesprochene Gedanke, dass die Abiturienten, eben noch zu vor der rauen Wirklichkeit zu schützenden Kinder gezählt, zukünftig auf eigenen Füßen stehen müssen?

 

Den Worten jener Mutter zufolge, die so schwerwiegende Gedanken mit geschulter Zunge vorzutragen beliebte, haben die Abiturienten 1970 jahrelang ein Glück genossen, dessen sie sich gar nicht bewusst gewesen zu sein scheinen. Sie waren „Schüler einer Schule von besonderer Prägung“, in der sie das „Bild einer Welt der Werte und der Ordnung kennengelernt“ haben sollen.

 

Hätten die Schüler wirklich nur dieses Weltbild kennengelernt, muss hier kommentiert werden, der Schritt ins Leben, den man jetzt von ihnen fordert, wäre lebensgefährlich. Eine ähnliche Befürchtung mag auch diese Mutter gehabt haben, und sie beeilte sich nachzutragen, dass es entscheidend sei, dass überhaupt eine Position bezogen wurde. Bleibt nur zu hoffen, dass die in dem Geist, den sich auch Overbach zu eigen macht, geforderte Verantwortlichkeit nicht in Beschränktheit, die geforderte Souveränität nicht in Unentschlossenheit „umgemünzt“ wurden.

 

Dass diese „Ummünzung“ bei dem einen oder anderen Abiturienten nicht vollständig stattgefunden hat, bewies ein Abiturient, der im Namen seiner Konabiturienten den sicherlich verblüfften Zuhörern, die eine typische Abiturienten-Dankrede erwartet hatten, erklärte, als Schüler habe man nicht gelernt, demokratisches Bewusstsein zu üben, die Schule sei eine Welt, die auch „morgens um 7“ schon nicht mehr in Ordnung sei, man habe eben für die Schule gelernt, nicht für das Leben.

 

Die „Bescheinigung, dass man treu und brav Fachwissen gestapelt“ habe, hätte er gerne als „Fetzen Papier“ bezeichnet, hätte er nur nicht seine Kritik in „hätte“ und „wäre“ verkleidet. Mitten in seinen kritischen Äußerungen schien diesen Abiturienten, der beinahe einen Skandal verursacht hätte, der Mut zu verlassen. Denn die vor geistigen Verbeugungen triefende abschließende Dankadresse an den Schulleiter war offensichtlich ernst aufzunehmen – oder sollte es versteckter Spott gewesen sein?

 

Ernst meinte es auf jeden Fall der Leiter des Gymnasiums, Dr. Pauels, der – durch den Querschuss seines Schülers sichtlich erregt – in wortgewaltiger Vision von der Welt heraufbeschwor, dass den Bildern eines H. Bosch entliehen sein könnte. In der Aula, unter dem Eindruck der rhythmisch rauschenden und berauschenden Klänge des modernen Chorgesanges und in der Erkenntnis, dass aus der Tiefe unserer christlich-europäischen Tradition etwas Brodelndes und Drohendes an die Oberfläche unserer Gegenwart zu dringen begehrt, spann er den Gedankenfaden von „unserem blutigen Jahrhundert“, den er im voraufgegangenen Gottesdienst begonnen hatte, weiter und entwarf in einem genialen Abriss ein Bild der Welt, wie es ein Apostel Paulus nicht trefflicher zustande gebracht hätte.

 

Ausgehend von der dynamischen Jugend, die sich selbst um die Kostbarkeit des Jungseins bringe (hier fehlte nur noch das entsprechende Zitat von Shaw) in diesem Zeitalter der Astronauten und der Rhythmen entwickelte er mit unnachahmlichem Engagement und bestechender Rhetorik den Gedanken, dass die Abiturienten in Overbach („paradiesisches Eiland“) keine behütete Jugend verbracht hätten, sondern sich frei zu Persönlichkeiten entwickeln konnten.

 

Die Overbacher Lehrer, so Dr. Pauels, haben andererseits in einem „abgesicherten Raume ohne Unterstützung der Umwelt“ die jungen Menschen „in ihrer schwierigsten Entwicklungsstufe“ geleitet. Bei näherem Hinsehen allerdings entpuppt sich der „abgesicherte Raum“ als von unüberwindlichen Mauern umgeben, und die fehlende „Unterstützung der Umwelt“ ist nichts anderes als die fehlende Orientierung an ihr.

 

Denn wie kann ein Erzieher, der junge Menschen auf die (wörtlich) „Brutalität des Lebens“ vorbereiten soll, zu einer persönlichen Rechtfertigung gegen die (kläglichen) Angriffe jenes ungezogenen Schülers den Apostel Paulus zitieren, der Gott zu seinem alleinigen Richter beruft?! Wörtlich: „Euer Urteil, Kameraden, darf mich nicht beeinflussen…“

 

Und damit nicht genug, die Geister aller Epochen wurden in einer einzigartigen Schau heraufbeschworen, Sokrates, Augustinus, Guardini…Franz von Sales, jener „hervorragende Pädagoge, dessen einziges Machtmittel im Umgang mit den Menschen seine Liebe war“, dessen Erbe in Overbach als „Geist von Overbach“ bewahrt werden soll.

 

Schließlich glaubte Dr. Pauels sich mit revolutionärem Ideengut solidarisieren zu können, als er den Jungen, denen die Welt zu heil zu sein scheint, die zertrümmernde Faust führte, den Strukturismus, das Denken ohne Subjekt, zu zerschlagen. Denn in keiner Struktur seien die Lösung und das Heil zu finden, aber größer als die Zeit und ihre Strukturen sei der Mensch, das Maß aller Dinge als Ebenbild Gottes.

 

Der Schlussgedanke der Ausführungen des Schulleiters war das Vater-Kind-Verhältnis zu seinen Schülern: „Ich bin mehr Vater als mancher, der Vaterrechte beanspruchen kann!“ Die Kraft für diese „geistige Vaterschaft und Mutterschaft“ schöpfe er aus dem Prinzip, dass im Christentum immer wieder im Vordergrund stehe, der jungfräulichen Mutter Maria als dem großen Korrelat zur männlichen Stärke. Wie das Verhältnis des Schülers zum Erzieher in der Praxis aussieht, beleuchtete Dr. Pauels mit einem „wunderbaren Wort“ eines Kollegen: „Ehe ich meine Schüler vor mir sehe, bin ich ihnen schon im Gebet begegnet“. Nur – vom Beten mag schon mancher (aufgrund autosuggestiver Kräfte) gesund geworden sein, aber fachliche Leistungen müssen erarbeitet werden, auch von einem Pädagogen.

 

(Anm. der Oldboys-Redaktion: Der revolutionäre Schüler war - laut einem Bericht der Jülicher Volkszeitung - unser Alfred Bramkamp. Hatte er das wirklich so gemeint? (Alfred, sag mal was.)

 

Der Autor dieses Artikels, Volontär Tuisko Laufer, der nur als Vertretung damals in der Redaktion der "Jülicher Nachrichten" weilte, wurde wenige Tage später meines Wissens nach entlassen.